Quartiersprojekte



Problemstellung

Eine der großen sozialpolitischen Herausforderungen besteht darin, dass im Zuge des demografischen Wandels der Pflegebedarf in der Bevölkerung steigt und zugleich die Finanzierbarkeit pflegerischer Leistungen durch Kranken- bzw. Pflegeversicherung an ihre Grenzen stößt.
Den sich aus dieser Entwicklung ergebenden Versorgungsdefiziten gilt es in den nächsten Jahren entgegenzuwirken, um einer älter werdenden Bevölkerung eine breite und bezahlbare pflegerische Gesundheitsversorgung im häuslichen Umfeld anbieten zu können, formelle und informelle Pflegeangebote zu sichern und die Finanzierung sozialraumorienteierter Angebote zu gewährleisten1.
In den letzten Jahren wurde ein Vielzahl von Forschungsprojekten durch öffentliche Finanzmittel auf den Weg gebracht, jedoch beschränkten sich diese Vorhaben meist auf theoretische Aspekte, Technologieentwicklungen und Grundlagenforschung.
Für die Implementierung von Quartiersprojekten sind akteurs- und organisationsbezogene Aspekte sowie tragfähige Geschäftsmodelle und Finanzierungs- und Refinanzierungsaspekte notwendig.
Daraus ergeben sich Qualitätsanforderungen an Quartiersprojekte, die den Mehrwert gegenüber regelhaften Wohn- und Versorgungskonzepten abbilden.
Gemeint sind Versorgungskontinuität (Sicherung einer qualifizierten Versorgung auch bei sich veränderndem Hilfe- und Pflegebedarf), Nutzerorientierung (individuelle Lebensgestaltung), Selbstbestimmung/Selbstverantwortung (Umsetzungsverantwortung), Koordination (Abstimmung des synergetischen Zusammenwirkens unterschiedlicher Akteure in geteilter Verantwortung), Transparenz (über Gesamtprozesse: Leistungserbringende, Verantwortlichkeiten, Umsetzungsprozesse).
Ambient Assisted Living (AAL) Lösungen sollen den Erhalt und die Förderung der Selbständigkeit älterer bzw. hilfsbedürftiger Menschen sowie die Bereitstellung von Hilfs- und Unterstützungsangeboten im häuslichen Bereich sicherstellen, gleichzeitig müssen Finanzierungsfragen für Dienstleister, Hersteller technischer Assistenzsysteme und der Wohnungswirtschaft geklärt werden.
Die meisten AAL Projekte gehen von der Hypothese aus, dass altersgerechte Assistenzsysteme für Gesundheit, Sicherheit und Versorgung einen wichtigen Beitrag leisten.
Neben technischer Entwicklung und wirtschaftlicher Anwendung müssen aber vor allem die Bedürfnisse der Betroffenen sowohl auf professioneller Seite, als auch von Pflegebedürftigen und Angehörigen betrachtet werden.
Bisher werden jedoch die aus der Grundlagenforschung gewonnen Annahmen nur unzureichend mit Pflegefachkräften, Dienstleistern und Krankenkassen kommuniziert.
Datenaustausch zwischen professionell Pflegenden und Fallmanagern auf der einen und Kostenträgern auf der anderen Seite ist jedoch eine Grundvoraussetzung für Akzeptanz und rechtliche Sicherheit von AAL Technologien2.
Ohne Nutzenabschätzung eingesetzter technischer Assistenzsysteme und Dienstleitungen ist die Überführung in die Kostenerstattung und Finanzierung nicht möglich.
Für ambiente Assistenzsysteme, digitale Kommunikationstechnologien sowie angrenzende Gesundheits- und Versorgungsdienstleistungen liegen keine angepassten Qualitätsmanagementsysteme vor.
Charakteristisch für technische Assistenzsysteme im häuslichen Umfeld und wohnraumverbessernde Maßnahmen sind eine hohe Interdisziplinarität und daraus resultierend eine Vielzahl beteiligter Partner aus verschiedenen medizinischen, technologischen, soziologischen und wirtschaftlichen Bereichen.
Medizin-technische, pflegewissenschaftliche, architektonische und sozialökonomische Belange werden bisher getrennt voneinander betrachtet und beeinträchtigen dadurch die erforderlichen Organisations- und Versorgungsstrukturen.
Bisher fehlt ein übergreifendes Verständnis hinsichtlich der Integration von technischen Assistenzsystemen in bestehende Versorgungsstrukturen und Unterstützungsszenarien.

Vorgehensweise

Quartiersprojekte müssen hybride Produkte und Dienstleistungen umfassen sowie eine medizin-technische Basisinfrastruktur für das häusliche Umfeld und Beratungsleistungen, mit dem Ziel des selbstständigen Lebens zuhause, umfassen.
Durch Einführung eines zertifizierten Qualitätsmanagementsystem nach der Normenreihe DIN | ISO 9001:2015 werden alle Systemkomponenten (technische Hilfsmittel, Assistenzsysteme, Infrastruktur, Beratung und Dienstleistungen) prozessorientiert interpretiert, was die Anwendung in angrenzenden Dienstleistungsbereichen erleichtert.
Mit Hilfe dieses prozessorientierten Ansatzes werden alle Systemkomponenten den ICF-Domänen3 Kommunikation (d3), Mobilität (d4), Selbstversorgung (d5) und häusliches Leben (d6) zugeordnet.

Integration von Technik und Dienstleistungen

  • Technische Assistenzsysteme und wohnraumverbessernde Maßnahmen prozessorientiert betrachten.
  • Nutzenabschätzung für Betroffene, ihre Angehörigen und professionell Pflegende.
  • Aufbau integrierter Versorgungspfade.
  • Nutzung von Geo-Daten der Leistungserbringer.
  • Aufbau eines Datenmodells zur Qualitätskontrolle.

Teilhabe und Selbstbestimmung stabilisieren.

Wohnraumverbessernde Maßnahmen und technische Assistenzsysteme müssen in einem qualitätsgesicherten Prozess – von der Analyse bis zur erfolgreichen Umsetzung in der Gesundheitsversorgung – bereitgestellt werden, um die Nutzung und Einhaltung von definierten und relevanten Qualitätsstandards sicherzustellen 4.

Alle Dienstleistungen müssen sich daran messen lassen, inwieweit es ihnen gelingt, die häusliche Lebens- und Pflegesituation von Betroffenen zu stabilisieren und dadurch Teilhabe sowie Selbstbestimmung zu sichern.


Lösung

Datenmanagement zusammen mit einem Qualitätsmanagementsystem veranschaulicht das hohe Potenzial technischer Assistenzsysteme für eine Überführung in die Regelversorgung und wird die Basis für zukünftige bevölkerungsbezogene Versorgungskonzepte schaffen 5.
Die integrierte, systematische Datenanalyse aller Anwendungen und Dienstleistungen trägt dazu bei, Wirksamkeit und Effizienz von Gesundheitsfürsorge und Krankheitsvorbeugung zu verbessern, da sich Betroffene, Angehörige, Leistungserbringer und Kostenträger ein genaueres Gesamtbild über den Einsatz technischer Assistenzsysteme machen können 6.
Der ISO 9001 Geltungsbereich wird um Sensoren, Aktoren, Kommunikationstechnik, Pflegehilfsmittel, wohnraumverbessernde Maßnahmen, Datenmanagement, Assessment, Validierung, Evaluation und Beratung erweitert.
Über Verfahrens- und Arbeitsanweisungen wird zusätzlich die Sicherung der Qualität der Leistungserbringung im deutschen Gesundheitswesen nach §§ 135 ff. SGB V gewährleistet.
Für eine herstellerübergreifende Interoperabilität von Dienstleistungen und Komponenten werden Technologien und Anwendungen identifiziert und klassifiziert.
Da der Betrieb von Systemkomponenten im häuslichen Umfeld oftmals betreiberübergreifend erfolgt, werden Verfahrensanweisungen und Regelungen zur Kooperation und Verteilung von Verantwortung zwischen den Beteiligten aufgebaut.
Der Einsatz einer interdisziplinären Prozessplanung und -umsetzung, die berufsgruppenübergreifende Maßnahmen, Einzelmaßnahmen und Ergebnisse verbindet, schafft die Basis für zukünftige bevölkerungsbezogene Versorgungskonzepte.
Im Ergebnis liefert das Qualitätsmanagementsystem einmalige Erkenntnisse über Wirkungen und Akzeptanz ambienter Assistenzsysteme und angrenzender Dienstleistungen sowie messbare Ergebnisse.
Um eine stärkere Qualitätsorientierung bei Quartiersprojekten zu erreichen, ist es nötig, "einheitliche Beobachtungsgrößen, d. h. Bezugsgrößen in Form von Qualitätsanforderungen, wie auch Qualitätskennzahlen oder -indikatoren zur Qualitätsmessung und kontinuierlichen Qualitätsförderung zu entwickeln" 7.
Ohne messbare Beobachtungsgrößen sind Vergleiche von Qualitätsunterschieden zwischen neuen Wohn- und Versorgungsformen nicht zielführend.

[1] Weiß Ch., Lutze M., Compagna D., Braeseke G., Richter T., Merda M.: Abschlussbericht zur Studie Unterstützung Pflegebedürftiger durch technische Assistenzsysteme, Bundesministerium für Gesundheit (Hrsg.), VDI/VDE Innovation + Technik GmbH, IEGUS – Institut für Europäische Gesundheits- und Sozialwirtschaft GmbH, Berlin, 15.11.2013.
[2] Unabhängiges Landeszentrum für Datenschutz Schleswig-Holstein (ULD): Vorstudie – Juristische Fragen im Bereich altersgerechter Assistenzsysteme –; Im Auftrag vom VDI/VDE Innovation + Technik GmbH; Dezember 2010.
[3] ICF: Die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) wendet ein bio-psycho-soziales Modell an. Der Einsatz der ICF als Kodierungsinstrument muss bei Quartiersprojekten konsequent angewendet werden. Alle Dienstleister erhalten mit der ICF ein Instrument, das ihnen ihre Rolle als persönlicher Berater sowie zukunftsweisender Wegbereiter zur Selbstbestimmung und Teilhabe erleichtern soll.
[4] Bade T., Hüfner O., Yvon M.: Datenmanagement technischer Assistenzsysteme im häuslichen Umfeld – Ermündigung von Familien und Akteuren, 8. AAL-Kongress 2015, VDE Verlag GmbH, Berlin-Offenbach, April 2015, 292-294.
[5] IBM Human Centric Solutions Center: Innovation for the People of a Smarter Planet; IBM Human Centric Solutions Center is making a difference for Italian seniors aging at home in Bolzano; Internet Zugriff 28. Oktober 2014, http://www-03.ibm.com/able/news/bolzano_video.html.
[6] City of Bolzano: The Computerworld Honors Program, Honoring those who use Information Technology to benefit society, 2012; Internet Zugriff 28. Oktober 2014, http://www-03.ibm.com/able/news/computerworld_award.html.
[7] Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen: Resilienz im Gesundheitswesen, Wege zur Bewältigung zukünftiger Krisen, Gutachten 2023, MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Berlin, Bonn Januar 2023, ISBN 978-3-95466-785-7: 363.
Um die Integration der Leistungserbringer innerhalb und zwischen den verschiedenen Bereichen der Gesundheitsversorgung und die Entwicklung sozialrechtlich zulässiger Versorgungssezenarien auf kommunaler Ebene zu erreichen, wird auf folgendes Dokument verwiesen:
BadeT.: Leitfaden für die wirtschaftliche Verwertung von kommunalen Förderprojekten, 2023. PDF Download